Auf Demonstration folgt Repression – Südtirol

166 Jahre Haft für Aktivist*innen nach Protest am Brenner gegen die Festung Europas

Die jüngste Verurteilung von 63 Aktivist*innen aus Norditalien, welche 2016 gegen die
Errichtung einer Grenzsperre am Brenner demonstrierten, ist als Teil einer systematischen Repressionswelle gegen Linke und antifaschistische Gruppen zu verstehen und als solche abzulehnen. Während die Leben von Migrant*innen und Flüchtenden ein Spielball menschenfeindlicher Populisten geworden sind, wird militanter Protest dagegen aus dem Kontext gerissen, kriminalisiert und mit drakonischen Strafen sanktioniert. Insgesamt 166 Jahre Haft lautet das vorerst noch nicht rechtskräftige Urteil dieses jüngsten Verfahrens. Eine Berufung ist wahrscheinlich. 
 
Das Ganze kann als erschreckende Kontinuität von Einschüchterungsversuchen staatlicher Behörden gegen progressive Kräfte in Südtirol verstanden werden. So wurden erst kürzlich am 4. März 10 Aktivist*innen vom Richter Ivan Perathoner wegen einer antifaschistischen Kundgebung gegen die rechte Lega in Bozen zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Der vorgeschobene Grund: Die Kundgebung war nicht angemeldet. Einige Monate zuvor hat Perathoner ebenfalls Aktivist*innen zu Haftstrafen von zwei Monaten verurteilt. In diesem Fall wegen der Proteste gegen den Neofaschisten Roberto Fiore im Dezember 2018. Bei beiden Kundgebungen kam es zu keinen nennenswerten Zwischenfällen. 
 
Währenddessen marschieren weiter Faschisten offen durch italienische Städte und greifen marginalisierte und als „anders“ markierte Personen offen an, wie in auch in den letzten Tagen am Covid-Testzentrum in Bozen. Marginalisierte Personen werden verfolgt und in Kriegsgebiete abgeschoben, Seenotretter*innen werden kriminalisiert weil sie nicht zuschauen wenn Migrant*innen und Flüchtende an den Außengrenzen Europas sterben. Wir würden hier viel lieber über die rassistische Brutalität an den Europäischen Grenzen reden und was wir als Gesellschaft besser machen können. Stattdessen müssen wir uns mit Repression gegen jene beschäftigen, die etwas gegen die Festung Europa unternehmen.  Darum möchten wir hier den Stimmen von Freund*innen aus Bozen Platz geben, die auf ihrer Facebook Seite „Bolzano Antifaschista“ folgenden Text zum Urteil veröffentlicht haben (aus dem italienischen übersetzt):  

 

Soli-Kundgebung vom 14.05.21 Bildquelle: Oltreilponte

Am Freitag, dem 14. Mai, wird am Landesgericht in Bozen das Urteil für die Vorfälle im Zusammenhang mit der Demonstration gegen die Abschottungs- und Grenzpolitik der EU, vom 7. Mai 2016 an der Brennergrenze, verkündet. Für 63 Genoss*innen hat die Staatsanwaltschaft insgesamt mehr als 330 Jahre Haft gefordert. Viele von ihnen werden wegen Artikel 419 des Strafgesetzbuches angeklagt, d.h. Verwüstung und Plünderung. Es handelt sich um ein undefiniertes Gesetz, welches immer häufiger in politischen Prozessen im Zusammenhang mit Demonstrationen angewandt wird. Dabei werden paradoxe und schwindlige Interpretationen verwendet, die aus einer einfachen Beschädigung eine organisierte kriminelle Handlung machen und ein übertriebenes Strafausmaß von bis zu 15 Jahren Gefängnis zur Konsequenz haben können. All dies passiert auf der Grundlage des Ermessens des*der Richter*in. 
Fünf Jahre nach dem Kampftag an der Brennergrenze sind die Gründe, welche hunderte Aktivist*innen dazu brachten am Brenner zu demonstrieren, weiterhin aktuell. Der strukturelle Rassismus und Neokolonialismus der westlichen Länder verursacht weiterhin Tod und Leiden von tausenden Menschen in den Lagern in Libyen, auf dem Grund des Mittelmeers, durch die Unterstützung von diktatorischen Regimen, mit dem Verkauf von Waffen oder den Abwurf von Bomben. Hauptsache der Profit von Unternehmen und multinationalen Konzernen wird gesichert.
In Italien erschießen Arbeitgeber einerseits versklavte Arbeiter*innen auf ihren landwirtschaftlichen Feldern, wie es kürzlich in Apulien geschah, andererseits wird die Staatsanwaltschaft aktiviert, wie es in Piacenza geschah, wo eine Untersuchung gegen die örtliche Arbeiter*innenbewegung unter anderem zur Einleitung von Verfahren zum Entzug der Aufenthaltsgenehmigung von streikenden ausländischen Arbeitskräften führte. In dieser erschreckenden Situation kriminalisiert das von Salvini und der 5-Sterne-Bewegung gewollte, aber von allen wichtigen politischen Kräften bereitwillig akzeptierte Sicherheitsdekret, jede Form von politischen und sozialen Kampf mit jahrelangen Haftstrafen und dehnt den Zustand der bisher auf ausländische Arbeitskräfte angewendet wurde, auf die gesamte Bevölkerung aus. Darüber hinaus wurden insbesondere während des Ausnahmezustands in ganz Italien zahlreiche repressive Maßnahmen gegen Genoss*innen, die sich mit inhaftierten Personen solidarisierten, oder die sich mit Immigrant*innen solidarisierten, durchgeführt, da sie der Beihilfe zur illegalen Einwanderung beschuldigt wurden. Wieder einmal folgen die Herrschenden einer altbekannten Logik: Die Unterdrückung und Einschüchterung von Minderheiten um die Mehrheit gleichzuschalten.
 
Im Jahr 2016 wollte die österreichische Regierung – nach der Militarisierung der Brenner-Grenze – eine Sperre errichten, um Einwander*innen daran zu hindern, nach Nordeuropa zu gelangen. Immer mehr Mauern und Barrieren (Palästina-Israel, Mexiko-USA, Syrien-Türkei, Ungarn-Serbien) entstehen, um die Privilegien einiger weniger gegen das Elend der vielen zu verteidigen. Diejenigen, die an diesem Tag am Brenner auf die Straße gingen, hatten nicht die Absicht, sich zu unterwerfen oder so zu tun, als sei nichts geschehen, während ein paar Schritte von unseren Häusern entfernt Vorrichtungen installiert wurden, die das einzige Ziel haben, die Zahl der Toten unter den Schutzsuchenden zu erhöhen. Diese Menschen sind zur Flucht und gefährlichen Reisen gezwungen, um eine menschenwürdige Situation zu suchen, in der sie leben können. Es ist die x-te Maßnahme eines langen Krieges gegen die Armen.
 
Im gleichen Zeitraum wurden täglich Gesichtskontrollen am Bahnhof in Bozen durch die Bereitschaftspolizei durchgeführt, bei denen diejenigen, deren Hautfarbe sich von der weißen unterschied, systematisch angehalten und kontrolliert wurden. Jeder Kampf zur Durchsetzung von Gerechtigkeit und Freiheit hat historisch seinen Preis. Oftmals einen sehr hohen Preis diejenigen, die nicht gleichgültig geblieben sind gegenüber dem Leiden der Schwächsten und gegenüber den erstickten Schreien derer, die keine Stimme haben um gehört zu werden. Es ist von grundlegender Bedeutung, dass wir verstehen, dass es in diesem Prozess nicht nur um die einzelnen Angeklagten geht, sondern um alle! Wenn solche irrsinnigen Anklagen durchgehen, kann jede*jeder von uns die*der aktiv gegen ein kapitalistisches Wirtschaftssystem kämpft, die nächste Person sein, die angeklagt wird. Dieses Wirtschaftssystem, welches die Umwelt und die natürlichen Ressourcen verwüstet und ausplündert, gräbt immer tiefere Abgründe zwischen einer kleinen Minderheit von privilegierten Milliardär*innen und einer riesigen Masse von Proletarier*innen. Wir werden immer weiter ausbeutet und unserer Rechte beraubt, die in den Kämpfen der Vergangenheit hart erkämpft wurden. Zeigen wir gemeinsam unsere Solidarität mit den Angeklagten des Brenner-Prozesses auf die Art und Weise, die jede*jeder für sich am angemessensten hält.
 

Wer sich solidarisch zeigen möchte, kann folgendes Konto nutzen, welches eingerichtet wurde um Prozesskosten der Brenner-Demonstration zu decken.

 
Bezerra Kamilla
Betreff: „spese legali processo brennero“
IBAN: IT04H3608105138216260316268
BIC/SWIFT:  PPAYITR1XXX